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Der Else Ury Campus

Die Moses Mendelssohn Stiftung hat es sich zum Prinzip gemacht, jedes neue Haus, das unter ihrer Ägide entsteht, nach einer jüdischen Persönlichkeit zu benennen, die auch einen jeweiligen Bezug zum Ort hat, und damit diese Person im kollektiven Gedächtnis zu verankern. Für diesen hier geplanten Campus soll an eine wichtige, aber weitestgehend vergessene Vertreterin der deutsch-jüdischen kulturellen und intellektuellen Elite des Kaiserreichs und der Weimarer Republik erinnert werden. Als Mitglied des Berliner Bürgertums und bedeutende Kinderbuchautorin wurde Else Ury (1877 – 1943) trotz ihrer Berühmtheit – denn damals wie auch später lag so gut wie auf jedem Nachttisch junger Mädchen ein Band der beliebten Autorin und Erfinderin von »Nesthäkchen« und ihren Abenteuern – nicht vor der Verfolgung der Nazis verschont. Else Ury wurde im Alter von 65 Jahren von Berlin aus in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und dort am 13. Januar 1943 ermordet.

Das Ziel des Else Ury Campus ist es, einen Ort zu schaffen, an dem sich gesellschaftspolitisch engagierte und geschichtsbewusste Studierende aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen begegnen, um an einem authentischen historischen Ort gemeinsam zu wohnen, zu arbeiten, zu lernen und ihr Wissen weiterzugeben. Angehende Akademiker:innen aus geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Alltags-, Kultur-, Migrations- und Sozialgeschichte, Politikwissenschaft, Didaktik, Pädagogik, Soziologie und Kunsterziehung werden dazu angeregt, gemeinsam mit ihren Kommiliton:innen aus Naturwissenschaften und Informatik, Ingenieurswissenschaften und Architektur sowie IT- und KI-Fachleuten neue Formen der Geschichtsvermittlung zu erarbeiten und dabei diverse Fragestellungen zu entwickeln:

  • Wie sieht das Museum von morgen aus und wie machen wir es für junge Menschen attraktiv? Wie sieht der Geschichtsunterricht in der Zukunft aus und was werden die jeweiligen Lehrplane an historischen Ereignissen vorsehen?
  • Wie vermitteln wir künftig die Marksteine der Vergangenheit und wo setzen wir die Schwerpunkte?
  • Wie sieht der Geschichtsunterricht in der Zukunft aus und was werden die jeweiligen Lehrplane an historischen Ereignissen vorsehen?

Ausgangs- bzw. Anknüpfungspunkt dieser intellektuellen Herausforderung für künftige Entscheidungstrager:innen soll das benachbarte »Gleis 17« und dessen historischer Kontext sein. Als Gedenkstätte, aber auch Mahnmal soll es der jungen Generation als Gedenkort dienen, an dem neue Impulse für den zukünftigen Umgang mit den historischen Ereignissen, der gesellschaftlichen Verantwortung und einer angemessenen Gedenkkultur generiert werden können. Der Else Ury Campus soll dabei ein innovatives Forum bieten, um zukünftige Perspektiven auf historische Ereignisse zu entwickeln. Dies soll in einer interdisziplinär arbeitenden Geschichtswerkstatt (history lab) als work in progress geschehen. Dabei werden alle Berliner Deportationsorte (Gleis 17, Gleis 69 in Moabit und Anhalter Bahnhof) in den historischen Fokus genommen. Um interessierte und kompetente Studierende für dieses Pilotprojekt zum integrativen studentischen Wohnen, Arbeiten, Lernen und Leben zu gewinnen, wollen weitere fachspezifische Hochschullehrer:innen aus den umliegenden akademischen Bildungseinrichtungen in Berlin und Brandenburg als Ansprechpartner:innen und Mediator:innen gewonnen werden.

Unter Berücksichtigung und Wahrung des Status quo des bestehenden Mahnmals »Gleis 17« soll auf dem Grundstück ein studentischer Wohn- und Arbeits-Campus für ca. 165 Studierende entstehen. Dabei ist an vier Einzelgebäude, drei davon mit jeweils 45–50 Wohneinheiten á 18 qm Wohnfläche sowie Gemeinschaftsräume und work spaces (innen und außen) gedacht. Für den reibungslosen technischen Betrieb wird ein:e Hausmeister:in permanent vor Ort sein. Wie in den bereits bestehenden 20 Studierenden- Apartmenthäusern der Moses Mendelssohn Stiftung, betrieben durch die FDS gemeinnützige Stiftung, fungieren studentische Tutor:innen als erste Anlaufstelle für die Bewohner:innen des Campus, ein regelmäßiges Veranstaltungsprogramm setzt Impulse zum Engagement im Campusleben, ebenso Wettbewerbe, die unter verschiedenen Motti ausgeschrieben werden.
Der vierte Baukörper ist ausschließlich der Dauerausstellung zur Geschichte des Gleis 17 und dem Lernort (history lab) vorbehalten. Die auf dem Campus fest integrierte Ausstellung mit geregelten Öffnungszeiten für den Publikumsverkehr soll dauerhaft von den Studierenden betreut werden. Es finden daher in regelmäßigen Abstanden Schulungen und Workshops durch Fachleute statt, die den Studierenden didaktische Anleitungen vermitteln, um anschließend eigenständige Führungen durch die Ausstellung zu ermöglichen, wodurch die Studierenden wiederum zusätzliche Kompetenzen und darüber hinaus wichtige soft skills für ihr eigenes Fortkommen erhalten. Das Ausstellungskonzept selbst wird unmittelbar nach Erstbezug des Campus durch die Studierenden unter der wissenschaftlichen Anleitung der Kuratorin der Moses Mendelssohn Stiftung erarbeitet. Die erste Kohorte der studentischen Bewohner:innen wird damit maßgeblich die Gestaltung der Ausstellung prägen. Um die vorgestellten Ziele zu erreichen und die Studierenden zur Mitarbeit zu motivieren, stehen studentische Tutor:innen kontinuierlich als Ansprechpartner:innen bereit. Von Seiten der Moses Mendelssohn Stiftung wird ein Stipendienprogramm aufgebaut, insbesondere für die finanzielle Förderung von Abschlussarbeiten, die sich mit dem Thema Erinnerungskultur auseinandersetzen. Ziel ist es ebenso, Studierende aus Israel für einen Auslandsaufenthalt in Berlin zu gewinnen, um gemeinsam mit hiesigen Kommiliton:innen auf dem Campus adäquate Formen des Erinnerungsdiskurses zu analysieren und die jeweiligen Narrative in Israel und Deutschland zu beleuchten.

Der Else Ury Campus steht für die Vision einer interdisziplinaren Kombination von Wohnen, Arbeiten, Lernen und Lehren, gleichzeitig aber auch eines imaginären Schutzschilds gegen zukünftige Ausprägungen jener Dimensionen der Ausgrenzung, die ethnische, sexuelle oder religiöse Minderheiten im Laufe der deutschen Geschichte erfahren haben, geformt aus den Lehren, welche die Gesellschaft – hoffentlich – aus der Geschichte gezogen hat und weiterhin ziehen wird. Die Topografie des »Gleis 17« ist dafür mahnende Erinnerung und Motivation zugleich.

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